blind - sehend! Jacques Lusseyrand

Meine Blindheit war für mich eine große Überraschung, glich sie doch in keiner Weise meinen Vorstellungen von ihr.
Auch nicht den Vorstellungen, welche die Menschen um mich herum von ihr zu haben schienen. Sie sagten mir, Blindsein bedeute Nichtsehen.
Aber wie konnte ich ihnen Glauben schenken, da ich doch sah?
Nicht sofort, das gebe ich zu. Nicht in jenen Tagen, die unmittelbar auf die Operation folgten. Denn damals wollte ich noch meine Augen gebrauchen, mich von ihnen leiten lassen.
Ich blickte in die Richtung, in die ich vor dem Unfall zu blicken pflegte, von dort aber kam nur Schmerz, Empfinden des Mangels, etwas wie Leere.
Von dort kam das, was die Erwachsenen, glaube ich, Verzweiflung nennen.
Eines Tages jedoch merkte ich, dass ich ganz einfach falsch sah.
Ich blickte zu sehr in die Ferne und vor allem zu sehr auf die Oberfläche der Dinge.
Das war weit mehr, als nur eine gewöhnliche Entdeckung: Es war eine Offenbarung.
Ein Instinkt - ich möchte fast sagen: eine Hand, die sich auf mich legte - hat mich damals die Richtung wechseln lassen. Ich begann, mehr aus der Nähe zu schauen: aber nicht an die Dinge ging ich näher heran, sondern an mich selbst.
Anstatt mich hartnäckig an die Bewegung des Auges, das nach außen blickte, zu klammern, schaute ich nunmehr von innen auf mein Inneres.
Unversehens verdichtete sich die Substanz des Universums wieder, nahm aufs Neue Gestalt an und belebte sich wieder. Ich sah, wie von einer Stelle, die ich nicht kannte, und die ebenso gut außerhalb meiner wie in mir liegen mochte, eine Ausstrahlung ausging oder genauer: ein Licht - das Licht. Das Licht war da, das stand fest.
Ich fühlte eine unsagbare Erleichterung, eine solche Freude, dass ich darüber lachen musste. Zuversicht und Dankbarkeit erfüllten mich, als ob ein Gebet erhör worden wäre.
Ich entdeckte das Licht und die Freude im selben Augenblick und ohne Bedenken kann ich sagen, dass sich Licht und Freude in meinem Erleben seither niemals getrennt haben:
zusammen besaß oder verlor ich sie.
Zu keiner Stunde meines Lebens - weder im Bewusstsein noch selbst in meinen Träumen riss die Kontinuität des Lichts ab.

Dennoch gab es Zeiten, in denen das Licht nachließ, ja fast verschwand. Das war immer der Fall, wenn ich Angst hatte. Wenn, ich, anstatt mich von Vertrauen tragen zu lassen und mich durch die Dinge hindurch zu stürzen, zögerte, prüfte, wenn ich an die Wand dachte, an die halb geöffnete Türe, den Schlüssel im Schloss, wenn ich mir sagte, dass alle Dinge feindlich waren und mich stoßen oder kratzen wollten, dann stieß oder verletzte ich mich bestimmt. Die einzige Art, mich im Haus oder im Garten oder am Strand leicht fortzubewegen, war, gar nicht oder möglichst wenig daran zu denken. Dann wurde ich geführt, dann ging ich meinen Weg, vorbei an allen Hindernissen so sicher, wie man es Fledermäusen nachsagt. Was der Verlust meiner Augen nicht hatte bewirken können, bewirkte die Angst: sie machte mich blind.
Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld, sie brachten alles in Verwirrung.

Wenn mich beim Spiel mit meinen Kameraden plötzlich die Lust ankam zu gewinnen, um jeden Preis als erster ans Ziel zu gelangen, dann sah ich mit einem Schlag nichts mehr. Ich wurde buchstäblich von Nebel, von Rauch umhüllt.
Die schlimmsten Folgen aber hatte die Boshaftigkeit. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, missgünstig und gereizt zu sein, denn sofort legte sich eine Binde über meine Augen, ich war gefesselt, geknebelt, außer Gefecht gesetzt; augenblicklich tat sich um mich ein schwarzes Loch auf, und ich war hilflos. Wenn ich dagegen glücklich und friedlich war, wenn ich den Menschen Vertrauen entgegenbrachte und von ihnen Gutes dachte, dann wurde ich mit Licht belohnt.
Ist es verwunderlich, dass ich schon früh die Freundschaft und Harmonie liebte? Was brauchte ich einen Moralkodex, wo ich doch in mir ein solches Instrument besaß?

Auszüge aus dem Buch: Jacques Lusseyrand, "Das wiedergefundene Licht"
Herausgehobene Stellen von H. Wutte makiert.