Ruhe-Übung - Meditation - Zwölf Briefe über Selbsterziehung

Und welches ist nun unsere Haltung? Für uns ist es nicht das Richtige, uns von irgendwelcher undurchschauten Naturgeistigkeit unterstützen zu lassen, sondern die höhere Welt zu suchen aus dem klaren Bewußtsein und aus dem freien Willen heraus. Darum gibt es für uns körperlich nur eine Regel: Das natürlich körperliche Dasein soll uns möglichst wenig stören. Die Lage, in der sich unser Geist möglichst ungehindert fühlt, ist für uns die beste. Man kann das nur persönlich ausprobieren. Der eine braucht größere Bequemlichkeit - die den anderen zum Einschlafen brächte. Dem anderen ist größere Straffheit gut, durch die der erstere gerade abgelenkt würde. Man kann als Regel nur sagen: soviel Bequemlichkeit als ohne Faulheit möglich ist. -
Die Meditation, von der wir nun sprechen wollen, dient dem Erreichen der Geistesruhe. Sie ist so beschaffen, daß sie dem Gegenwartsmenschen in seinem gehetzten Leben besonders wohltut, und daß sie zugleich zeigt, wie man von ganz Einfachem aufsteigend zum Höchsten emporsteigen kann.
Wir wenden uns einfach dem Wort "Ruhe" zu. In einer Zeit, wo das stille Einsiedlerleben ohnedies üblich ist, würden wir nicht guttun, es zu wählen. Aber im Zeitalter der ewigen Eile kann es Ungezählten eine seltene Wohltat für Leib und Seele werden, in diesem Wort Ruhe erst einmal heimisch zu werden.
Wieder muß uns der Schatz von Erinnerungen zu Hilfe kommen, den wir in unserem Gedächtnis mit uns tragen. Wo in meinem vergangenen Leben habe ich am stärksten erlebt, was Ruhe ist? Ein stiller Abend im Wald fällt uns ein. Wir saßen auf einer Bank am See. Mit friedlichem Plaudern spielten die Wasser zu unseren Füßen. Kaum merkbar sich wiegend rauschten die Bäume im Abendwind. Dämmerung breitete sich wie ein hüllendes Gewand über das Land. Wir hatten an diesem Tag ein vollgerütteltes Maß von Arbeit getan. Nun war Feierabend. -
Je lebendiger und konkreter das Bild ist, um so besser. Haben wir das Bild zu starkem Leben gebracht, dann tilgen wir das Bild und behalten nur die Empfindung zurück: die Empfindung einer großen, wohltuenden, alles erfüllenden Ruhe.
Was dem einen Menschen der Abend im Wald ist, das wird dem anderen Menschen der Eindruck der hohen Berge im ewigen Schnee sein, wie er sie auf einer Wanderung ganz plötzlich in der Ferne vor sich sah: eine unergründliche Mahnung aus einer höheren Welt. Und wieder einem anderen wird es der nächtliche Sternenhimmel sein, wie er ihn beim Heraustreten aus einer erregten Versammlung oder aus einer lebhaften Gesellschaft besonders eindrucksvoll erlebte. Mancher mag auch an dem Abendlied Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh" ein ähnliches Erlebnis gehabt haben oder an den Nachtliedern von Mörike, Hebbel, Novalis. Immer gilt es, alles einzelne der Erinnerung nur als Hilfe dienen zu lassen, um zum Gefühl de großen Ruhe zu kommen.
So mächtig wie nur möglich sollte diese Ruhe empfunden werden. Man mag sich in solchen Fällen sagen: Du empfindest nun diese Ruhe so stark, es gibt aber gewiß Menschen, die sie noch zehnmal stärker empfinden als du. Nicht nur gilt es, in dieser Meditation, die etwa fünf bis fünfzehn Minuten dauern mag, (lieber 3 Mal täglich 2 bis 3 Minuten aufrecht sitzend - ohne Lehne. Empfehlung Dr. Heribert Wutte), immerfort möglichst bewußt diese Ruhe festzuhalten, gleichsam immerfort innerlich zu ihr Ja zu sagen, sondern es gilt auch, sie womöglich immer stärker werden zu lassen. Und den ganzen Körper mit ihr auszufüllen, gleichsam den Körper mit ihr auszugießen. Man kann auch, um innerlich aktiv zu bleiben, seine einzelnen Glieder nacheinander zur Ruhe bringen.
Man wird dann erst merken, wieviel Krampf in den Gliedern ist, in den Händen, in den Füßen, im Gehirn, in den Halsmuskeln, die den Kopf tragen. Man schaut dann der Ruhe zu wie einem Trank, der durch alle Reiche des Leibes rinnt.
Gewiß wird mancher sagen: Dabei schlafe ich ein. Und ist es so schlimm, wenn man ein Schlafmittel hat? Mancher, der schwer zum Schlaf kommt, mag sich diese Meditation dazu dienen lassen. Er entspannt sich in ihr. Er weht wie ein Wächter in seinem Körperhaus umher und sieht, was nicht schlafen will, und bringt es zur Ruhe. Namentlich dort, wo der Kopf mit dem übrigen Leib zusammenhängt, wird er guttun, nach dem Rechten zu sehen, damit der Kopf ganz gelöst wird. Man läßt "die Ruhe" in sich wirklich "ruhen". Wenn der Mensch ernstlich will, wird er auch in scheinbar verzweifelten Fällen durch diese Übung zum Einschlafen kommen. Er wird nur oft bemerken, daß er eigentlich gar nicht will, daß er mit seinen aufgeregten Gedanken und Gefühlen ein wenig liebäugelt und sie um keinen Preis hergeben mag gegen eine solche Ruhe. Könnte er aber auch mit dieser Hilfe nicht zum Schlaf kommen, so würde ihm doch die Ruhe, die ihn erfüllt, wenn er wirklich nichts Bestimmtes denkt, sondern in der Ruhe ruht, fast so wohltätig sein können wie ein wirklicher Schlaf.(...)
Wenn wir zu der Ruhe-Übung zurückkehren, so kann sie dem Menschen allmählich vorkommen wie ein Sanatorium, das er sich selbst gebaut hat. Er bedarf nicht weiter und kostspieliger Reisen ins Gebirge, wenn er sich erholen will. Er kehrt in seine Ruhe ein. Im Anfang habe ich mir manchmal vorgestellt, ich wohne in dieser Ruhe, wie etwa ein Taucher unter einer großen Glasglocke im Meer weilt. Draußen wallt das Meer, die Fische ziehen vorüber, die Raubtiere des Meeres greifen an, er aber ist wohlgeborgen in seinem durchsichtigen Haus, aus dem er hinausschaut auf das, was um ihn ist. So mag man in seinem Ruhehaus einen Geistesblick tun auf den Lärm und die Hast da draußen. Man wird so das Ruhegefühl durch den Gegensatz verstärken können.
Viele werden erst allmählich auf solchen Wegen lernen, was eigentlich Ruhe ist. Sie haben sie bis dahin nur in der Form des unbewußten Schlafes gekannt. Die leibhaftige Ruhe kehrt in uns ein, ruht selbst in uns, wach und lebendig, speist uns, heilt uns, vergöttlicht uns. Als ich das zuerst erlebte, bekam ich das Empfinden, daß ich nun endlich eine Möglichkeit sehe, an den "Nerven" zu arbeiten. Wie man eine Last heben kann, wenn man unter sie hinunterzugreifen vermag, so hat man nun ein Reich gefunden, das unterhalb der Nerven liegt, und man braucht nur an das Wort Ruhe zu denken, dann ist man auch schon in seinem Ruhehaus. Mitten im ärgsten Straßengewühl, mitten in der aufgeregtesten Versammlung: wenn wir nur daran denken, steigt Ruhe auf wie ein Tempel und nimmt uns in ihren Frieden hinein.
Indem wir dies hier aussprechen, arbeiten wir am Geistesleben der Menschheit wie ein Nervenarzt. Keine Pillen werden den Menschen so helfen wie solche Ruheübungen. Würde die Menschheit ernst nehmen, was hier geschrieben ist, so wäre die Gefahr der Neurasthenie in der Menschheit und schlimmerer Geisteserkrankungen, die aus der zerstörenden Hast aufsteigen, in einigen Jahrzehnten überwunden.(...)

Auszug aus: Friedrich Rittelmeyer: Meditation - Zwölf Briefe über Selbsterziehung, 1928, Wiederauflage 1989 ff.