Über die Geduld - Rainer Maria Rilke

Im Brief vom 23.4.1903

...den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann; alles Austragen - und dann Gebären...Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit... Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles.


Im Brief vom 16.7.1903

... Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen, und lernen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.....

Aus: Rainer Maria Rilke, "Briefe an einen jungen Dichter", Schriftwechsel mit Franz Xaver Kappus