Leid ist Gnade - Stephen Levine

Acht chassidische Gelehrte übersetzten einen alten hebräischen Text und stießen auf den Satz: "Leid ist Gnade." Sie hielten inne und kamen nach kurzer, objektiver Beratung zu dem Schluß, daß sie diese Textstelle eigentlich nicht verstanden, obwohl sie ihnen schon oft begegnet war. "Kann denn Leid wirklich Gnade sein?" Keiner von ihnen wollte eine eventuell ungenaue Übersetzung dieser Aussage in Kauf nehmen, und alle meinten, daß man nicht weiterarbeiten könne, ohne ihren tieferen Sinn verstanden zu haben. "Wie mag das nur gemeint sein?" fragten sie sich.
Einer der Rabbis meinte: "Draußen vor der Stadt lebt doch der Krüppel Jonathan. Dieser Jonathan hat in seinem Leben schon viele Qualen und Krankheiten erleiden müssen. Bei den großen Überschwemmungen, die sein Land zerstörten und sein Haus unter Schlamm begruben, ist auch sein Sohn ums Leben gekommen. Aber als er seinen Sohn bestattete und sein Haus wieder herrichtete, hat er zu Gott gesungen. Nach einigen Jahren wurde seine Frau sehr krank, denn der Ertrag seiner Felder reichte zum Leben kaum aus. Und dennoch hörte Jonathan mit seinem Singen nicht auf. Selbst als er sich später ein Bein brach und fortan hinken mußte, weil er sich keinen Arzt leisten und den Beinbruch richtig ausheilen konnte, verlor er seine Unerschütterlichkeit nicht. Wie karg seine Felder auch waren, wie schwer ihn die Dürre auch heimsuchte, Jonathan ließ nicht davon ab, zu Gott zu beten und zu singen. Wenn irgendjemand weiß, warum Leid Gnade ist, dann ist es Jonathan. Er ist so arm und hat so viel Unglück erlebt, und trotzdem hat er seinen Frieden nicht verloren."
So machten sich die acht Rabbis auf den Weg zu dem kümmerlichen Hof, auf dem Jonathan mit seiner Frau lebte. Sie trafen ihn auf der Veranda an, und er lud sie alle ein, an seinem kärglichen Abendessen teilzuhaben. Die Rabbis wollten dies natürlich nicht annehmen, und indem sie bekundeten, wie großzügig er sei, obwohl er doch so wenig habe, kamen sie auf den Grund ihres Besuches zu sprechen. Sie erzählten ihm von ihren Schwierigkeiten, die ihnen die gewissenhafte Übersetzung des Satzes "Leid ist Gnade" bereitete. Unter all den Menschen, die sie kennen würden, sei er der einzige, der ihnen seinen Sinn erhellen könne, denn trotz all seiner Mißgeschicke habe er seine Herzensgüte immer bewahrt. "Jonathan, Du hast Deinen Sohn verloren, Dein Hof wurde vernichtet und Du und Deine Frau sind sehr krank geworden. Wie ist es da möglich, daß du Gott noch immer in Deinen Liedern preist? Wie hast Du erkannt, daß Leid Gnade sein kann?"
Und Jonathan erwiderte schüchtern: "Oh, es tut mir sehr leid, daß Ihr diesen weiten Weg gekommen seid, ohne daß ich Euch helfen kann. Ich bin nicht der Mann, der Euch diese Frage beantworten könnte. Ich leide nicht."

Aus: Stephen Levine, Sein lassen